Helfen, reparieren oder dienen?

Von Rachel Naomi Remen
(Englisches Original)

“Reparieren und helfen schaffen Distanz zwischen Menschen, aber aus der Distanz können
wir nicht dienen. Wir können nur demjenigen dienen, mit dem wir zutiefst verbunden sind.”

Helfen, reparieren und dienen stehen für drei verschiedene Perspektiven auf das Leben. Wenn du helfen willst, siehst du das Leben als schwach. Wenn du reparieren willst, siehst du das Leben als kaputt. Wenn du dienen willst, siehst du das Leben als Ganzes. Reparieren und Helfen ist vielleicht die Arbeit unseres Egos, das Dienen die Arbeit unserer Seele.

Dienen beruht auf der Grundannahme, dass die Natur des Lebens heilig ist, dass das Leben ein heiliges Geheimnis ist und einen unbekannten Zweck hat. Wenn wir dienen, wissen wir, dass wir zum Leben und zu diesem Zweck gehören. Aus der Perspektive des Dienens sind wir alle miteinander verbunden: Alles Leiden ist als ob es mein Leiden wäre und alle Freude ist als ob es meine Freude wäre. Aus dieser Perspektive entsteht der Impuls zum Dienen natürlich und wie von selbst.

Dienen ist etwas anderes als Helfen. Helfen ist keine Beziehung auf Augenhöhe. Ein Helfer kann andere als schwächer sehen als sie es wirklich sind, bedürftiger als sie es wirklich sind, und intuitiv spüren Menschen diese Ungleichheit oft. Die Gefahr beim Helfen besteht darin, dass wir Menschen unabsichtlich mehr wegnehmen, als wir ihnen jemals geben können; wir können ihren Selbstrespekt, ihr Selbstwertgefühl, ihre Integrität oder sogar ihre Ganzheit verringern.

Wenn wir helfen, werden wir uns unserer eigenen Stärke bewusst. Aber wenn wir dienen, dann tun wir das nicht aus unserer Stärke; wir dienen mit uns selbst, schöpfen aus all unseren Erfahrungen. Unsere Unvollkommenheiten dienen; unsere Wunden dienen; sogar unsere Dunkelheit kann dienen. Mein Schmerz ist die Quelle meines Mitgefühls; meine Verwundung ist der Schlüssel zu meiner Empathie.

Dienen lässt uns unserer Ganzheit und ihrer Kraft bewusst werden. Die Ganzheit in uns dient der Ganzheit in anderen und der Ganzheit des Lebens. Die Ganzheit in dir ist das Gleiche wie die Ganzheit in mir. Dienen ist ein Verhältnis auf Augenhöhe: Unser Dienen stärkt uns und andere.

Reparieren und Helfen ist anstrengend, und im Laufe der Zeit können wir ausbrennen, aber das Dienen erneuert sich. Wenn wir dienen, erneuert uns unsere Arbeit von selbst. Wenn wir helfen, können wir ein Gefühl der Befriedigung finden; beim Dienen finden wir ein Gefühl der Dankbarkeit.

Der Notarzt Harry erzählt eine Geschichte darüber, wie er sich genau dieser Unterschiede bewusst wurde. Eines Abends in seiner Schicht in einer Notaufnahme voller akuter Fälle wurde eine Frau mit Geburtswehen gebracht, unmittelbar vor der Geburt. Als er sie untersuchte merkte Harry sofort, dass ihr Geburtshelfer nicht rechtzeitig da sein würde und er deshalb dieses Baby selbst zur Welt bringen würde. Harry mochte die technische Herausforderung bei der Geburt von Babys und er war zufrieden. Das Team trat in Aktion. Eine Krankenschwester öffnete hastig die Instrumentenpakete und zwei andere, die am Fußende des Tisches zu beiden Seiten von Harry standen, stützen die Beine der Frau auf ihren Schultern und sprachen ihr Beruhigung zu. Das Baby wurde fast sofort geboren.

Während das Baby noch über die Nabelschnur mit seiner Mutter verbunden war, legte Harry es auf seinen linken Unterarm. Während er den Hinterkopf des Babys in seiner linke Hand hielt, nahm er eine Saugglocke in seine rechte Hand und begann Mund und Nase von Schleim zu befreien. Plötzlich öffnete das Baby die Augen und sah ihn direkt an. In diesem Moment ließ Harry all sein Training fallen und erkannte eine sehr einfache Sache: dass er der erste Mensch war, den dieses kleine Mädchen je erblickte. Er fühlte, wie sein Herz ihrem Herzen zur Begrüßung entgegenkam, im Namen aller Menschen und Tränen traten ihm in die Augen.

Harry hat Hunderte von Babys zur Welt gebracht und hat immer die Aufregung genossen, schnelle Entscheidungen zu treffen und seine eigene Kompetenz auf die Probe zu stellen. Aber er sagt, bis zu diesem Moment habe er noch nie die tiefere Bedeutung seiner Arbeit innerlich zugelassen, zu erkennen, womit genau er mit seiner Fachkompetenz diente. In diesem einen Moment der aufblitzenden Erkenntnis fühlte er wie Jahre des Zynismus und der Müdigkeit von ihm abfielen und erinnerte sich daran, warum er sich überhaupt für diese Arbeit entschieden hatte. All seine harte Arbeit und seine persönlichen Opfer schienen es ihm plötzlich wert zu sein.

Er hat jetzt das Gefühl, dass dies in gewisser Weise das erste Baby war, das er je zur Welt gebracht hat. In der Vergangenheit war er ganz mit seiner Fachkompetenz beschäftigt gewesen, Bedürfnisse und Gefahren einschätzend und angemessen darauf zu reagieren. Er war schon so oft als Experte dabei gewesen, aber noch nie als Mensch. Er fragt sich, wie viele andere solche bedeutungsvollen Momente der Verbindung mit dem Leben er verpasst hat. Er vermutet, dass es viele waren.

Wie Harry herausfand, ist Dienen etwas anderes als Reparieren. Beim Reparieren sehen wir andere als kaputt an, und reagieren mit unserer Expertise auf diese Wahrnehmung. Reparaturspezialisten vertrauen ihrem eigenen Know-how, sehen aber möglicherweise nicht die Ganzheit in einer anderen Person oder vertrauen nicht der Integrität des Lebens in ihnen.

Wenn wir dienen, sehen und vertrauen wir dieser Ganzheit. Wir reagieren darauf und arbeiten mit ihr zusammen. Und wenn wir die Ganzheit in anderen sehen, dann stärken wir sie. Dann können sie diese Ganzheit vielleicht zum ersten Mal für sich erkennen.

Eine Frau, die mir in diesem Sinne zutiefst gedient hat, ist sich wahrscheinlich nicht darüber bewusst, welchen Unterschied sie in meinem Leben gemacht hat. Tatsächlich kenne ich nicht einmal ihren Nachnamen und ich bin mir sicher, dass sie meinen schon lange vergessen hat.

Mit neunundzwanzig wurde aufgrund von Morbus Crohn ein Großteil meines Darms operativ entfernt und ich bekam ein Ileostoma, einen künstlichen Darmausgang. An meinem Bauch befindet sich eine geöffnete Darmschleife und ein genial gestaltetes Plastikgerät bedeckt diese Öffnung. Dieses muss alle paar Tage entfernt und ersetzt werden. Keine leichte Sache für eine junge Frau, mit so etwas leben zu müssen, und ich war mir überhaupt nicht sicher, ob ich dazu in der Lage sein würde. Während die Operation mir viel von meiner Vitalität zurückgegeben hatte, ließen diese neue Apparatur und die tiefgreifende Veränderung in meinem Körper in mir das Gefühl aufkommen, dass ich hoffnungslos anders als alle anderen sei, von der Welt der Weiblichkeit und Eleganz dauerhaft ausgeschlossen.

Am Anfang, bevor ich mein Gerät selber wechseln konnte, wurde es von speziellen Schwestern, die enterostomale Therapeuten genannt werden, für mich gewechselt. Diese weiß gekleideten Experten waren Frauen in meinem Alter. Sie betraten mein Krankenzimmer, legten eine Schürze, eine Maske und Handschuhe an und nahmen dann mein Gerät heraus und ersetzen es mit einem neuen. Jedes mal wenn diese Aufgabe erledigt war, würden sie ihre gesamte Schutzkleidung ausziehen. Dann würden sie sich sorgfältig die Hände waschen. Dieses aufwendige Ritual mitzuerleben machte es mir schwerer. Ich fühlte mich beschämt.

Eines Tages kam eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, um diese Aufgabe zu übernehmen. Sie kam spät am Tag und war nicht in einem weißen Kittel, sondern in einem Seidenkleid. Sie trug Schuhe mit hohen Absätzen und schicke Strümpfe. Sie sah aus, als ob sie danach mit jemandem zum Essen gehen würde. Freundlich nannte sie mir ihren Vornamen und fragte, ob ich mein Ileostoma gewechselt haben wolle. Als ich nickte, schlug sie meine Decke zurück, zog ein neues Gerät hervor, und ersetzte auf die einfachste und natürlichste Art und Weise, die man sich vorstellen kann, mein altes Gerät mit dem neuen Gerät, und ohne dabei Handschuhe anzuziehen. Ich erinnere mich noch, wie ich ihre Hände beobachtete. Sie hatte sie sorgfältig gewaschen, bevor sie mich berührte. Sie waren weich und sanft und wunderschön gepflegt. Sie trug einen hellrosa Nagellack und ihre zarten Ringe waren goldfarben.

Zuerst war ich fassungslos über den Bruch in der professionellen Vorgehensweise. Aber als sie lachte und sich mit mir auf die alltäglichste und leichteste Art und Weise unterhielt, fühlte ich plötzlich eine große Welle ungeahnter Stärke von irgendwo tief in mir hochsteigen, und ich wusste ohne den geringsten Zweifel, dass ich alles schaffen würde. Ich würde einen Weg finden. Es würde alles gut werden.

Ich bezweifle, dass ihr jemals bewusst wurde, was ihre Bereitschaft, mich auf eine so natürliche Weise zu berühren, für mich bedeutet hat. In diesen zehn Minuten pflegte sie nicht nur meinen Körper, sondern sie heilte auch meine seelischen Wunden. Das professionellste ist nicht immer das, was der Ganzheit in anderen am besten dient und sie am meisten stärkt. Reparieren und Helfen schaffen Distanz zwischen Menschen und eine Erfahrung der Verschiedenheit. Wir können nicht aus der Distanz dienen. Wir können nur demjenigen dienen, mit dem wir zutiefst verbunden sind, wenn wir in der Lage sind zu berühren. Reparieren und Helfen sind Strategien, das Leben zu reparieren. Wir dienen dem Leben aber nicht, weil es kaputt ist, sondern weil es heilig ist.

Dienen erfordert, dass wir wissen, dass unsere Menschlichkeit stärker ist als unsere Fachkompetenz. In fünfundvierzig Jahren chronischer Krankheit ist mir von vielen Menschen geholfen worden und ich wurde von einer großen Anzahl anderer Menschen repariert, Menschen, die meine Ganzheit bei diesem Handeln nicht erkannten. All dieses Reparieren und Helfen hat mich auf einer wichtigen und grundlegenden Ebene verletzt. Nur Dienen kann das heilen.

Dienen ist keine Erfahrung von Stärke oder Fachkompetenz; Dienen ist eine mysteriöse Erfahrung, Dienen ist Hingabe und Ehrfurcht. Helfer und Reparaturspezialisten fühlen sich in einem gut begründeten kausalen Zusammenhang. Dienende haben von Zeit zu Zeit das Gefühl, das Werkzeug einer größeren und unbekannten Kraft zu sein. Diejenigen, die dienen, tauschen das Gefühl ihrer Kompetenz gegen eine geheimnisvolle, mysteriöse Erfahrung und verwandeln so ihre Arbeit und ihr Leben in eine spirituelle Praxis.

Dr. Rachel Naomi Remen ist klinische Professorin der Familien- und Gemeinschaftsmedizin an der medizinischen Fakultät der Universität von Kalifornien in San Francisco. Sie ist Mitbegründerin und medizinische Direktorin des Krebshilfeprogramms. Sie ist Autorin des Bestsellers: Aus Liebe zum Leben. Geschichten, die der Seele gut tun.

Quelle: „Helfen, reparieren oder dienen?“, Rachel Naomi Remen, Shambhala Sun, September 1999.